Der Terror von Solingen: Worüber wir reden sollten
Was gerade in Deutschland und anderen Europäischen Staaten passiert ist eine skrupellose Instrumentalisierung der Tat um rechte Forderungen nach Zwangsabschiebungen zu legitimieren. Es ist die Rede von “Terrorismus”. Eine Verallgemeinerung die dazu dient die Hintergründe zu verschleiern. Denn der Terror in Solingen hat einen Namen, eine politischen, organisatorischen und historischen Hintergrund: ISIS, der Islamische Staat in Syrien und dem Irak.
Riseup4Rojava
28.08.2024
Am Freitag, den 23. August, hat ein Mann in Solingen, Deutschland auf einem Stadtfest mit einem Messer 3 Menschen getötet und 8 zum Teil schwer verletzt. Der Täter hat sich wenig später der Polizei gestellt. Der 26-jährige Syrer aus Deir Ez-Zor ist 2022 nach Deutschland gekommen. Die öffentliche Debatte, die nach dem Angriff entfacht wurde, trägt in keiner Weise zu einer realistischen Einschätzung der Hintergründe bei und verhindert die Suche nach Lösungen und Vorkehrungen, um solche Angriffe in Zukunft zu verhindern. Während in der Debatte pauschal von ‘Terrorismus’ gesprochen wird, wird weitgehend übersehen, dass der Anschlag in Solingen durch den IS verübt wurde. Auch die Unterstützung der Türkei für ISIS ist ein zentraler, aber weitgehend ignorierter Aspekt.
Terrorismus, der Islamische Staat und die Unterstützung des Türkischen Staates:
Was gerade in Deutschland und anderen Europäischen Staaten passiert ist eine skrupellose Instrumentalisierung der Tat um rechte Forderungen nach Zwangsabschiebungen zu legitimieren. Es ist die Rede von “Terrorismus”. Eine Verallgemeinerung die dazu dient die Hintergründe zu verschleiern. Denn der Terror in Solingen hat einen Namen, eine politischen, organisatorischen und historischen Hintergrund: ISIS, der Islamische Staat in Syrien und dem Irak.
Wir tun gut daran, im Zusammenhang mit Angriffen wie etwa in Solingen darauf aufmerksam zu machen welche Rolle unter anderem der Türkische Staat beim Erstarken des Islamischen Staates gespielt hat und bis heute spielt. Solange es seinen Interessen dient hat die Türkei den IS im Kampf gegen die Kurdische Freiheitsbewegung unterstützt:
- die Türkische-Syrische Grenze war offen für IS Anhänger aus aller Welt
- Öl aus den vom IS besetzten Gebieten wurde über Türkisches Staatsgebiet exportiert
- der Türkische Geheimdienst MIT pflegte engen Kontakt mit der Führungsbeben der des IS
- IS Anhänger die in der Türkei medienwirksam verhaftet worden sind, wurden nach kurzer Zeit wieder frei gelassen
IS Gefangene auf der Flucht
Der Täter von Solingen ist 2022 nach Deutschland geflohen. Im selben Jahr hat der IS einen Groß angelegten Angriff/Ausbruchsversuch im Sina Gefängnis in Hesekê (Nord- und Ost Syrien) durchgeführt. Während die Insassen revoltierten, griffen ISIS Einheiten den Komplex von außen an. Rund 200 ISIS-Angreifer seien dafür aus vom Türkischen Staat seit 2019 besetzen Gebieten in Serê Kaniyê und Girê Spî in die Region eingesickert.
In den eine Woche lang andauernden Kämpfen im Gefängnis und der näheren Umgebung starben 40 Kämpfer der SDF, 77 Gefängnisangestellte und 4 Zivilisten. Zwischen 30 und 300 Gefangene konnten fliehen und viele von ihnen sind noch auf freiem Fuß. Verschiedenen Quellen zu Folge wurden sie durch ISIS Schleuser in die vom ISIS kontrollierte Wüstenregion an der Syrisch-Irakischen Grenze gebracht. Nach Angaben des Rojava Information Centers erreichten aber mindestens 4 hochrangige ISIS-Führer türkisch besetztes Gebiet. Es ist zu erwarten, dass vor allem hochrangige entkommene ISIS Anhänger Zuflucht in den von der Türkei besetzten Gebieten gefunden haben.
Bis heute führen die SDF nach wie vor regelmäßig Operation durch, um ISIS Schläferzellen aufzudecken. Den Aussagen Gefangener ISIS Mitgliedern geht hervor, dass sie nach wie vor Instruktionen und Unterstützung vom Türkischen Geheimdienst (MIT) erhalten.
Die USA, welche die SDF im Kampf gegen den IS unterstützen (zur Sicherung ihrer eigenen geo-politischen Interessen) schalteten in den vergangen Jahren zahlreiche IS Anführer per Luftschlag aus. Wo hielten sich diese bis dahin auf? In den vom Türkischen Staat besetzten Gebieten in Syrien, in Idlib & Afrin.
Fluchtursachen und der „Kampf gegen den Terrorismus“
Wenn wir über die internationale Bedrohung durch den IS sprechen, können wir die Situation in Nord und Ost Syrien nicht ausblenden: Nach dem militärischen Sieg der SDF gegen den Islamischen Staat, befinden sich tausende IS-Kämpfer und ihre Familien in Gefängnissen und Camps in der Region, die ein konstantes Sicherheitsrisiko für die lokale Bevölkerung aber auch für die Welt darstellen. Unter den Gefangen sind auch Tausende Staatsbürger zahlreicher Europäischer Staaten, deren Rückholung die Autonome Selbstverwaltung seit Jahren erfolglos von den verantwortlichen Staaten fordert.
In Deutschland überbieten sich nach dem tödlichen IS Anschlag Politiker und Medien mit Vorschlägen und Forderungen nach Abschiebungen in Kriegsgebiete, was für viele der betroffenen Geflüchteten die Übergabe an die Taliban in Afghanistan und das Assad Regime in Syrien bedeuten würde. Sie erwarten dort Folter und gesellschaftliche Ächtung.
Wenige Tage vor dem Anschlag in Solingen hat Ilham Ahmed, die Außenbeauftragte der Demokratischen Autonomen Selbstverwaltung Nord- und Ost-Syriens in einem Interview mit Neues Deutschland betont, dass die Autonome Selbstverwaltung bereit ist Syrer aufzunehmen, denen eine Zwangsabschiebung droht:
„Wir sind gegen Zwangsabschiebungen, wenn die Bundesregierung sich aber dafür entscheidet, dann nehmen wir in Nord- und Ostsyrien gerne die Menschen auf, bevor sie anderswo gefoltert werden. Aber hierfür bräuchte es internationale Unterstützung und eine enge Zusammenarbeit mit der Selbstverwaltung”
Sie unterstrich zudem, dass die Gefahr durch den IS weiter besteht und dass Seitens der Europäischen Staaten eine ernsthafte Auseinandersetzung damit nicht stattfindet:
„Jedes Land denkt zuerst an die Sicherheit seiner eigenen Bevölkerung. Dass IS-Kämpfer weiter in unserer Region bleiben, ist eine Gefahr auch für die Menschen hier in Europa. Aber darauf gibt es keine ernsthafte Reaktion vor Ort. Es wird nicht genug getan für die Bekämpfung der aktiven IS-Zellen. Nachdem die Türkei das Gebiet angegriffen und die Infrastruktur zerstört hat, ist die Gefahr durch den IS vor Ort größer geworden.”
Im sogenannten „Kampf gegen Fluchtursachen“, in Syrien, ist die Demokratische Autonome Selbstverwaltung Nord- und Ostsyriens, mit ihrem Fokus auf Basis-Demokratie, Frauenbefreiung und Ökologie ein Lichtblick in einer von Imperialistischen Kriegen und Destabilisierung geplagten Region.
Die Angriffe der Türkei, durch die zuletzt im Winter ein großer Teil kritischer Infrastruktur zerstört wurden, verursachen auf der einen Seite Migration und auf der anderen Seite stärken sie den IS.
Die Kraft die maßgeblich den Niedergang des Islamischen Staates in Syrien und dem Iraq herbeigeführt war die kurdische Freiheitsbewegung und dafür eine unvorstellbaren Preis gezahlt hat: 10.000 Gefallene aus allen teilen Kurdistans haben nicht nur die Region vom Terror des Islamischen Staates befreit sondern ihm auch seine Operative Basis und Ressourcen für Terroranschläge in aller Welt genommen. Im Kampf gegen den Terror des Islamischen Staates hat vor allem die PKK und die YPG/YPJ eine entscheidende Rolle gespielt. Das die PKK, heute noch immer von vielen europäischen Staaten als Terrororganisation geführt wird und selbst das Zeigen von YPG Fahnen zum Anlass für Gerichtsverfahren wird, spricht Bände. Während die Türkei vom sogenannten Westen als verlässlicher Partner hofiert wird, sind KurdInnen in Europa und insbesondere Deutschland und Frankreich massiven Repressionen ausgesetzt.
Wir haben keinerlei Illusionen dass Europäische Staaten, allen voran die BRD, der enge Partner Erdogans im Kampf gegen die Kurdische Freiheitsbewegung, ernstzunehmende Schritte zur Lösung des Problems an der Wurzel einleiten werden. Nichtsdestotrotz tun wir gut daran das Narrativ des nebulösen „Terrorismus“, dass nur Hass auf Muslime und Geflüchtete schürt, anzugreifen. Nennen wir die Verantwortlichen beim Namen. Der Terror des islamischen Staates wäre ohne Unterstützung durch das AKP-MHP Regime in der Türkei nicht möglich gewesen und ist es auch heute nicht. Wir müssen wir die Verantwortlichen benennen und auf eine ernsthafte Auseinandersetzung mit der Bedrohung durch den IS und deren Unterstützer bestehen.