We stand with the Guerrilla!


Our comrades in the tunnels of Zap and Metîna are fighting against the occupying Turkish army - we call on all our friends to show them we stand by their side!

Broschüre: Zum Krieg niedriger Intensität gegen Rojava & Qandil

 

Vorwort zur deutschen Ausgabe

Der revolutionäre Prozess in Rojava geht in sein neuntes Jahr. Es ist wichtig, diesen allgemeinen Prozess zwischen Revolution und Konterrevolution in seinen verschiedenen, spezifischeren Phasen zu sehen. Diese Phasen unterscheiden sich z.B. nach den beteiligten Akteuren, dem Kräfteverhältnis oder den Formen des Konflikts. Einige Phasen lassen sich genau datieren und sind mit bekannten Ereignissen verbunden (die Verteidigung von Kobane Anfang 2015, die Befreiung von Rakka gegen Ende 2017, der türkische Besatzungskrieg gegen Afrin im Januar 2018 usw.). Andere Veränderungen scheinen eher graduell zu sein oder sind erst im Nachhinein zu beobachten. Dieser Ansatz ermöglicht eine differenzierte Sicht auf die besonderen Bedingungen, unter denen der Prozess stattfindet, und ist die Voraussetzung für seine Verteidigung.

Es ist eine der herausragenden Qualitäten der kurdischen und türkischen GenossInnen vor Ort, mit dieser Methode immer wieder neue Wege zu finden, um die Fortführung des Prozesses unter sich ständig verändernden Bedingungen zu gewährleisten. Wir sehen dies beispielhaft daran, wie es ihnen gelang, die Lehren aus der militärischen Niederlage in Afrin zu ziehen, so dass die türkische Armee in Serekaniye auf besser vorbereiteten Widerstand traf. Wir sehen es zum Beispiel auch daran, wie die Guerilla in den befreiten Gebieten des Qandîl-Gebirges ständig neue Mittel entwickelt. Dieser Ansatz schützt vor Dogmatismus und Kurzsichtigkeit; er ermöglicht es der gesamten Gesellschaft von Rojava, sich auf das gemeinsame Ziel auszurichten, den Prozess mit allen ihr zur Verfügung stehenden Mitteln zu verteidigen.

Wir glauben, dass die Bewegung der internationalen Solidarität mit Rojava gut daran täte, eine ähnliche Methode anzuwenden, um einen Faden der internationalen Solidarität aufrechtzuerhalten, der sowohl konstant ist als auch an Veränderungen angepasst wird. Gegenwärtig im Sommer 2020 – ist der Hauptfeind von Rojava der türkische Staat. Eines der Hauptargumente dieser Broschüre ist, dass es falsch ist, passiv auf den Tag X zu warten, den Tag der „großen Offensive“, an dem wir schlagartig die Solidarität entfesseln sollten. Im Gegenteil, die Form der Kriegsführung niedriger Intensität, die derzeit von der Türkei in den vier Teilen Kurdistans geführt wird, stellt eine vitale Bedrohung dar. Und diese besondere Form des Krieges ist aus türkischer Sicht durchaus angemessen, da sie den Kriegszustand „normalisiert“ und es schwierig macht, eine breite Solidaritätsbewegung zu erreichen.

Der vorliegende Text, der im Winter 2019/2020 nach dem türkischen Angriff auf Serekaniye verfasst und seither aktualisiert wurde, kann zu einem besseren Verständnis der Situation beitragen. Es liegt an uns, Schulter an Schulter mit unseren GenossInnen in Rojava und Qandîl entsprechend zu handeln, um diesen Prozess im Sinne des

Internationalismus zu verteidigen.

Sekretariat der Roten Hilfe International Juli 2020

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Erkenne einen Krieg, wenn du einen siehst…

Über den Krieg des türkischen Faschismus mit niedriger Intensität gegen die befreiten Regionen in Kurdistan (Rojava, Qandîl, Şengal…)

I. Einleitung

Seit dem „Waffenstillstand“ vom 17. Oktober 2019 und dem Ende des klassischen militärischen Angriffs der türkischen Streitkräfte im Krieg gegen Rojava, hörte der Krieg gegen die KurdInnen in der Türkei, Syrien und dem Irak nie auf. Er nahm eine neue Form an, die drei von Strategen theoretisierte Kriegsformen kombiniert: Kriegsführung mit niedriger Intensität (low intensity warfare), hybride Kriegsführung (hybrid warfare) und Krieg der zusammengesetzten Kriegsführung (compound warfare). Klassische Militäraktionen wurden begrenzt und durch eine Vielzahl feindlicher Aktionen ergänzt. Dies sind zum Beispiel gezielte Attentate, das Verbrennen von Ernten, gezielte Bombardierungen durch Drohnen, Attentate durch Proxies, Provokationen von Massenfluchten usw. In sechs Wochen

„Waffenstillstand“ nach dem 17. Oktober 2019 führten die türkischen Streitkräfte 143 Überfälle auf ländliche Gebiete in Rojava durch, 42 Drohnenbombardements, 147 mittlere Bomben und Artillerie-Bomben. Sie überfielen 88 Orte, töteten Hunderte von Menschen und vertrieben 64.000 Menschen.

Nicht nur für die Medien, auch innerhalb der Bewegung für Rojava, war das vorherrschende Gefühl, dass der Krieg „ausgesetzt“ sei. Rojava ist kaum mehr in den Nachrichten, höchstens die Solidaritätsbewegung zweifelt und bereitet sich auf den „Grossen Krieg“ vor, die Offensive „grossen Stils“ der türkischen Streitkräfte gegen Rojava.

Die hier vorgestellte Studie analysiert die feindlichen Aktionen, die während mehrerer Monate des „Waffenstillstands“ Ende 2019 durch die Türkei und ihre Proxies gegen Rojava durchgeführt wurden. Diese Analyse ist wichtig, weil es sich nicht um Einzelfälle handelt, sondern um Bestandteile einer durchdachten und geplanten Strategie. Diese betrifft nicht nur Rojava, sondern, wie wir sehen werden, auch andere befreite Regionen Kurdistans (wie die Qandîl-Berge im Irak) oder Räume, in denen die Befreiungsbewegung die Befreiung und

Selbstorganisation des Volkes ermöglicht (das Flüchtlingslager Mexmûr, die Region der JezidInnen von Şengal im Irak usw.). Diese Form der Kriegsführung kann andauern und ist eine tödliche Bedrohung für die befreiten Regionen von Kurdistan. Die Solidaritätsbewegung mit Rojava muss diese Bedrohung verstehen und lernen, sie zu beantworten.

 

II. Die Änderung der Strategie

Es ist unklar, warum die Türkei 2019 von einer Strategie des totalen Krieges (mit direkter und massiver Intervention von türkischer Armee und Luftwaffe) abwich zu einer Kriegsstrategie niedriger Intensität. Erwägungen zu internationaler Politik könnten einen Einfluss gehabt haben. Der Widerstand von Serêkaniyê im Oktober 2019, der zeigte, dass die SDF besser vorbereitet waren als während der Schlacht von Efrîn (Januar bis März 2018), könnte ebenfalls einen Einfluss zur Änderung der Strategie gehabt haben.

Der Krieg, der aktuell [2020] durch die Türkei gegen Rojava geführt wird, vereint drei Merkmale:

– Es ist ein Krieg mit „niedriger Intensität“, die Türkei nutzt absichtlich nicht ihre ganze Militärmacht.

– Es ist ein „gekoppelter“ Krieg: Die Türkei handelt mehr durch Proxies als nur durch ihre eigenen Streitkräfte.

– Dies ist ein „hybrider“ Krieg: Die Türkei kombiniert konventionelle und nicht konventionelle Mittel sowie politische, wirtschaftliche und militärische Aktionen (dabei kann beispielsweise die Finanzierung einer gemeinnützigen Organisation ein strategisches Element sein). Die hybride Kriegsführung spielt sich sowohl auf konventionellen Schlachtfeldern, als auch in Bevölkerungsgruppen der Konfliktzone und der internationalen Gemeinschaft ab. Fast alle Aufstands-bekämpfungskriege sind hybride Kriege.

Bevor auf die verschiedenen Aspekte dieser neuen Form des Krieges gegen die befreiten Regionen Kurdistans eingegangen wird (hauptsächlich gegen Rojava und die Qandîl-Berge), sollte angemerkt werden, dass mehrere seiner Merkmale schon vor dem „Waffenstillstand“ von Oktober 2019 existierten. Die Türkei hat immer Proxies und unkonventionelle Mittel verwendet. Was die neue Phase charakterisiert sind die Methoden, die komplementär waren und nun strategisch wurden.

 

III. Die Methoden des Krieges

1. Die Verwendung von Proxies

Proxies sind wirtschaftlicher (d.h. günstiger) und politisch weniger gefährlich. Sie sind nicht immer 100% kontrollierbar (einige von Proxies begangene Kriegsverbrechen können zum Teil von der türkischen Politik geplant und berechnet sein, andere können einfach Initiativen von Proxies sein).

Es können drei Arten von Proxies unterschieden werden: Stellvertreter (Gruppen, die direkt von der Türkei abhängig sind wie die Jaysh alSharqiya-Miliz der Freien Syrischen Armee FSA), Söldner (wie die Sultan-Murad-Division, die so abhängig ist, dass der türkische Staat sie im Januar 2020 nach Libyen geschickt hat, um seine Interessen dort zu verteidigen) und andere Kriegführende mit politischer Autonomie, deren Interessen jedoch mit denjenigen der Türkei übereinstimmen (und die Hilfe aus der Türkei erhalten), wie z.B. Daesh.

2. Klassische militärische Angriffe

Die klassischen militärischen Angriffe gehen weiter. Sie sind selten genug um den Eindruck zu erwecken, dass sie Ausnahmen oder Unfälle sind, aber ausreichend und effektiv genug, um eine strategische Funktion der Schwächung des allgemeinen progressiven Widerstands zu verursachen. Die grössten dieser Operationen kombinieren Luftangriffe, Bodenüberfälle und Angriffe mit Hubschraubern.

Im irakischen Kurdistan führte die türkische Armee Ende der 90er Jahre mehrere grosse Operationen durch (die Operation „Stahl“ von März bis Mai 1995, die Operation „Hammer“ von Mai bis Juli 1997 und die Operation „Dämmerung“ im September bis Oktober 1997), eine neue Operation wurde im Februar 2008 durchgeführt (Operation „Sonne“).

Seit dem 28. Mai 2019 läuft aber eine Operation, die sich mit unterschiedlicher Intensität über deutlich längere Zeit erstreckt, die unter dem Namen „Klaue“ läuft. Diese kombinierten Operationen (Bombardements und Bodenangriffe) wurden in diesem Jahr [2020] in der Region erneuert.

3. Demografische Bewegungen

Ziel ist es, Bevölkerungsbewegungen im Einklang mit den strategischen Interessen der Türkei zu provozieren. Diese Bewegungen erfolgen in zwei Schritten:

– Zuerst wird die lokale Bevölkerung vertrieben. Der Exodus assyrischerChristInnen in Syrien wurde durch eine Kombination von Mobbing, Drohungen, Terror (bspw. Bilder von Gefangenen, die von FSAMilizsoldaten gekreuzigt worden waren) provoziert.

– Danach wurden die von den türkischen Kräften besetzten Regionen neubevölkert: Syrische, sunnitische und arabische Flüchtlinge wurden in strategische Bereiche umgesiedelt. Nach der türkischen Offensive vom Januar 2018 flohen 140.000 Menschen aus Efrîn um Zuflucht in den anderen Kantonen von Rojava zu finden. Die Türkei siedelte dann im Kanton Efrîn mehr als 160.000 sunnitische AraberInnen an. Diese stammten aus Ghuta, Idlip und anderen Regionen, die das syrische Regime von den Islamisten übernommen hatte. Damit veränderte die Türkei methodisch und systematisch die demografische Struktur der Region um die kurdische Präsenz zu löschen. Die Mehrheit dieser SiedlerInnen sind Freiwillige, Familien von Vertriebenen oder Flüchtlinge, die alles verloren haben. Ihnen wird am neuen Ort eine Perspektive angeboten, sie erhalten Land und Häuser, die von der Türkei aber auch von deutschen Banken und NGOs finanziert werden. Andere syrische Flüchtlinge wurden gezwungen, dahin zu ziehen und die Rolle von SiedlerInnen zu übernehmen. So mussten sie bspw. Dokumente auf Türkisch unterschreiben, die sie nicht verstanden.

4. Angriffe auf die Wirtschaft in den nicht besetzten Regionen

In diesen Gebieten wird die Wirtschaft gezielt angegriffen. Ziel ist es, das Potenzial für materiellen und moralischen Widerstand zu schwächen und innerhalb der Gesellschaft Widersprüche zu provozieren, indem den Menschen das Leben schwer gemacht wird. Wir können Folgendes unterscheiden:

– Direkte Angriffe wie das Verbrennen von Getreide in Rojava im Mai2019: Die Brände wurden manchmal durch Daesh verursacht, der auch die Verantwortung dafür übernahm, manchmal durch das Feuer türkischer Artillerie.

– Die Blockade wie diejenige, die Rojava vom irakischen Kurdistanisoliert, eine Blockade, die von den Streitkräften der kurdischen Regionalregierung des Barzani-Clans eingerichtet wurde, die eng mit türkischen Interessen verbunden ist. Seit Sommer 2020 werden die Effekte dieser Blockade verstärkt durch die Sanktionen der USA gegen Assad und das Veto Russlands in der UNO gegen offene Grenzübergänge.

5. Angriffe auf die Wirtschaft der besetzten Regionen

Die Zerstörung findet auch in den besetzten Regionen statt und verfolgt je nach Zone zwei Ziele:

– Ein Ziel ist es, die Lebensbedingungen in Bereichen, die von denautonomen Regionalbehörden verwaltet werden, unmöglich zu machen. Dies soll zur Entvölkerung der Gebiete beitragen. So demontierte am 5. Dezember 2019 ein Konvoi türkischer Soldaten die Umspannwerke von Mabruka und al-Bawab, was zum Zusammenbruch der Stromversorgung in der Region führte.

– Die Türkei zielt darauf ab, eine wirtschaftliche Autonomie derbesetzten Gebiete zu verhindern, um die Bevölkerungsgruppen vom wirtschaftlichen Austausch mit der Besatzungsmacht abhängig zu machen. In Efrîn entwurzelten die Proxies die Olivenbäume, die Haupteinnahmequelle für die Bevölkerung. Sie profitieren sofort von dieser Operation, weil ab sofort Oliven und Öl aus der Türkei eingeführt werden müssen. Damit erreichen sie, dass die Region wirtschaftlich von der Türkei abhängig ist.

Dieser Prozess wurde von den Verbündeten der Türkei schon in Aleppo angewandt: Vor dem Bürgerkrieg war ein Ziel der lokalen Politik in Aleppo, eine möglichst eigenständige Wirtschaft aufzubauen. Dafür wurden öffentliche Investitionen mit strengen Importkontrollen kombiniert. Mit dieser Strategie entwickelte sich die Stadt zu einem Zentrum der syrischen Textilindustrie. Während des Krieges bis zur Rückeroberung der Stadt durch die syrischen Regierungstruppen bauten die mit der Türkei verbündeten Islamisten die Industrie ab um eine Öffnung des syrischen Marktes für türkische Produkte zu erreichen.

6. Kontrolle strategischer Punkte

Der Krieg niedriger Intensität, den die türkische Armee gegen die befreiten irakischen Regionen Kurdistans führt, äussert sich nicht nur durch Bombardierungen (auch mit chemischen Waffen) und Überfällen durch Kommandos gegen die Qandîl-Berge, sondern auch durch die Schaffung zahlreicher Stützpunkte um die befreiten Regionen zu umkreisen und zu erwürgen. Die erste dieser Basen wurde 1997 installiert. Damals protestierten hunderte kurdischer DemonstrantInnen gegen die Militärbasen und die Bombardierungen. Unbewaffnet griffen sie die Basis von Shiladze (Provinz Duhok) an und setzten Militärfahrzeuge in Brand. Im Juni 2018 gab es bereits 13 grosse türkische Stützpunkte in der Region Qandîl, sowie eine Anzahl kleiner Peripheriestationen.

7. Angriffe auf die IT-Front

Die Türkei greift die kurdische Befreiungsbewegung auch auf IT-Ebene an. Diese Angriffe gegen die Kommunikation können durch ihre Art (Hardware-Angriffe oder IT-Angriffe) und durch ihr Ziel unterschieden werden (Feldkommunikation oder Nachrichtenmedien gegen aussen). Ein Beispiel dafür ist die Twitteroffensive vor den türkischen Angriffen vom 9. Oktober 2019. Da wurde eine Vielzahl von Twitter-Accounts erstellt, die protürkische Propaganda in die Twittersphäre schickten.

8. Terror und gezielte Ermordungen

Auch Terroranschläge und gezielte Ermordungen gehören zum Repertoire des türkischen Staates. Erstere werden eher von Proxies ausgeführt, bspw. am 11. November 2019, als bei drei gleichzeitigen Explosionen in Qamişlo, einer Stadt mit kurdischer Mehrheit, sechs Menschen starben und 42 verletzt wurden. Für gezielte Ermordungen ist hingegen der türkische Staat direkt verantwortlich. So ermordete der türkische Geheimdienst MIT das Mitglied des Zentralkomitees der MLKP und Anführer der MLKP-Rojava Bayram Namaz (Baran Serhat) am 23. März 2019 mit einer Bombe in seinem Auto.

Ergänzt werden kann diese Kategorie durch die militärischen Bombardierungen, deren hauptsächliches Ziel die Terrorisierung der Bevölkerung und deren Vertreibung ist. Dazu gehört die militärische Bombardierung vom Markt in Tel Rifat am 2. Dezember 2019. Der Anschlag hatte die Menschen zum Ziel, die von Efrîn nach Rojava geflüchtet waren. Bei diesem Bombenanschlag wurden zehn

ZivilistInnen getötet, darunter acht Kinder.

Terror ist auch die Regel in besetzten Gebieten: Entführungen, Attentate, Vergewaltigungen und Plünderungen sind auch alltäglich für die Bevölkerung von Efrîn und Serêkaniyê.

9. Wirtschaftliche und infrastrukturelle Investitionen

Wie jeder Krieg zielt der zusammengesetzte Krieg auf Frieden ab, aber auf Frieden in einer veränderten politischen Situation. Wirtschaftliche und infrastrukturelle Investitionen, die als „Entwicklungsprogramme“ ausgegeben werden, fallen in diesen Rahmen: Es werden „neue Städte“, Schulen und Strassen gebaut, es gibt Subventionen für NGOs und ihre örtlichen Vereinigungen usw. Die Türkei hat diese Politik bereits in Nordkurdistan (dem Südosten der Türkei) praktiziert. Ganze Teile des Bezirks Sûr, des historischen Zentrums von Diyarbakir, wurden nach der Aufhebung der Autonomie dem Erdboden gleichgemacht. 2015 wurden 6.000 kurdische Familien ausgewiesen, sie dürfen nicht dorthin zurückkehren. Im März 2016 wurde der Ministerrat abgesetzt. Damit schuf sich der türkische Staat die Möglichkeit, private Grundstücke zu enteignen. 6.292 Wohnungen, kommunale öffentliche Gebäude und christliches Kulturerbe wurde der lokalen Bevölkerung weggenommen.

10. Politische und ideologische Allianzen

Um ihren „Frieden“ aufzubauen, müssen sich die Aggressionskräfte auf ein Netzwerk von Kollaborateuren verlassen können. Dieses Netzwerk wird durch Absprache von Interessen, durch direkte Korruption oder durch ideologische Affinität erworben. Naheliegenderweise sind vor allem die reaktionären und patriarchalen Kräfte potentiell Teil dieses Netzwerks. In Syrien sind das für die Türkei die islamistischen Kräfte, aber auch feudale Stammesstrukturen. Im Irak hingegen die KDP des Barzani-Clans.

11. Propaganda

Propaganda ist ein wesentliches Element dieses Krieges, der nicht als solcher erscheinen will. Die Propaganda-Aktion ist direkt (über Kanäle, die direkt mit der Türkei und ihren Verbündeten identifiziert sind) oder indirekt (durch scheinbar neutrale Medien). Dabei werden einerseits gezielt ausgewählte Informationen verbreitet. Andererseits spielt die Desinformation eine wichtige Rolle, bei der falsche Anschuldigungen, direkte Lügen und gut recherchierte und glaubwürdige Gerüchte verbreitet werden. Diese richten sich an die Medien, an politische Kräfte und europäische NGOs. Einige Beispiele dafür sind:

– Provokationen und Operationen unter „falscher Flagge“: Dabei werdenVerbrechen türkischer Streitkräfte oder Verbündeter den kurdischen Kräften zugeschrieben.

– inszenierte humanitäre Operationen, die die türkische Besatzung als für die Bevölkerung vorteilhaft darstellen.

12. Legale „Anti-Terror“-Produkte

Einer der grossen Vorteile für den Besatzer dieses Krieges niedriger Intensität ist, dass er sich als Polizeimacht statt als Kriegsführender präsentieren kann. Auf der legalen Ebene nimmt das dem Widerstand alle Schutzmassnahmen des Kriegsrechts. Die Besatzungsmacht kann sich ausserdem auf nationaler und internationaler Ebene auf das AntiTerror-Gesetz berufen, insbesondere unter Bezugnahme auf internationale Abkommen zum „Waffenstillstand“, um die Aktionen des Widerstands zu stigmatisieren. Auf diese Weise sichert sich die Türkei von den USA und den europäischen Mächten die Verurteilung der Widerstandskräfte. Ausserdem droht den Mitgliedern der Widerstandskräfte die Verweigerung oder Rücknahme des politischen Flüchtlingsstatus. Dies kann die Auslieferung an die Türkei oder eine Inhaftierung in Europa zur Folge haben.

13. Massnahmen zur strategischen Tiefe

Der türkische Krieg ist nicht auf Kurdistan beschränkt. Er breitet sich überall dort aus, wo die Bewegung zur kurdischen nationalen Befreiung Kräfte und Verbündete hat, sowie in den angrenzenden Regionen von Kurdistan. In diesem Sinne versuchen auch die Agenten der Türkei die Solidaritätsbewegung in Europa und anderswo zu isolieren: Dabei werden Pressekampagnen und Lobbyarbeit für die Kriminalisierung von kurdischen Organisationen oder solche der türkischen revolutionären Linken usw. eingesetzt.

 

IV. Historische Präzedenzfälle

Die Türkei hat die Strategie der Kriege mit niedriger Intensität gegen die befreiten Völker nicht selbst erfunden. Diese Strategie wurde von mehreren dominanten Mächten angewendet, um ein befreites Land im Zusammenhang mit einer klassischen Invasion zu schwächen oder als Strategie der „zweiten Wahl“ nach dem Scheitern einer Invasion.

Wir werden nur zwei Beispiele nennen:

Kuba: Die USA praktizierten dieselbe Mischung aus Wirtschaftssabotage, Ermordungen und dem Verbreiten von Gerüchten. So wurden anfangs 1960 300.000 Tonnen Zuckerrohr in verschiedenen Teilen des Landes niedergebrannt. Es wurden gezielt UnterstützerInnen der Revolution ermordet, insbesondere ländliche Alphabetisierungsarbeiter. Im Dezember 1960 wurde systematisch durch die CIA und die Kirche das Gerücht verbreitet, dass Fidel Castro die jungen Leute zur Indoktrination in Lager in der UdSSR schicken wolle. Dies verursachte Panik in Familien, was dazu führte, dass mehr als 14.000 Kinder von ExilkubanerInnen in die USA gebracht wurden. Nach kubanischer Einschätzung verursachte der Krieg mit niedriger Intensität 3.478 Tote, 2.099 lebenslang Behinderte und insgesamt 181,1 Milliarden US-Dollar Sachschaden.

Mosambik: Nach der Befreiung des Landes von der portugiesischen Kolonialmacht im Jahr 1975, begann Südafrika einen Krieg niedriger Intensität gegen das Land. Der Grund dafür war, dass Südafrika Angst hatte, das Land würde als Basis für die Bewegungen gegen die Apartheid dienen. Südafrika und Rhodesien unterhielten mit der ReNaMo eine Guerilla, die in fünfzehn Jahren fast eine Million Menschen tötete und Mosambik verwüstete. Eine Folge davon war, das es bis 1986 zum ärmsten Land der Welt wurde.

Andere Beispiele wie Nicaragua könnten angeführt werden. Zur Zeit des kalten Krieges wurden die Auswirkungen dieser Kriege mit niedriger Intensität durch Hilfe der UdSSR oder Chinas etwas ausgeglichen. Trotzdem hatten diese Kriege einen starken Einfluss auf die Gesellschaften, auf die sie abzielten. Einerseits direkt durch die Toten und die Zerstörungen, andererseits indirekt, indem Ressourcen für den Aufbau und die Reproduktion der Gesellschaft gebunden wurden.

 

V. Das israelische Modell

Für die Mächte, die mit einem oder mehreren Völkern konfrontiert sind, die ihrer Herrschaft feindlich gegenüberstehen, hat diese Strategie die Praxis des totalen Völkermords ersetzt. Wir haben die Prinzipien davon gesehen, es ist ein Krieg, der sich nicht als solcher präsentiert, von den republikanischen Bezirken von Belfast bis zu den Bantustans in Südafrika. Es ist auch diese Strategie, die Israel gegen die PalästinenserInnen anwendet. PalästinenserInnen sind fraktioniert in wirtschaftlich unrentablen Räumen, umgeben von Siedlungen, Mauern, Militärstützpunkten, abhängig von den Israelis für Wasser und Strom. Alle Widerstandsversuche werden brutal und effektiv niedergeschlagen, aber mit ausreichender Präzision und Diskretion, dass dieser alltägliche Krieg gegen ein ganzes Volk als einfache Sicherheitsoperation erscheint.

Israelische Techniken werden vom türkischen Staat bis ins letzte Detail nachgeahmt:

– Die Zerstörung der Häuser der Familie einer Person, die beschuldigtwird, Mitglied des Widerstands zu sein. So haben in der ersten Dezemberwoche 2019 das türkische Militär und die Islamisten der FSA als Strafmassnahme gegen mutmassliche AnhängerInnen der SDF deren Häuser mit Dynamit dem Erdboden gleichgemacht. Im kurdischen Dorf Gora Maza, ca. 30 Kilometer von Girê Spî entfernt, walzten sie Häuser mit Baumaschinen platt.

– Der Bau einer „Sicherheitsmauer“: Ab 2005 baute Israel eine „Mauerder Sicherheit“, die die palästinensischen Gebiete abgrenzt. Die Barriere folgt über 700 km lang ungefähr der Grenze von 1967, geht aber oft auch ins Innere der West Bank (Westjordanland) um jüdische Siedlungen zu integrieren. Auf diesem Modell baute die Türkei 2017-2018 eine 564 km lange Mauer aus mobilen Betonblöcken, die 2 Meter breit und 3 Meter hoch sind und je 7 Tonnen wiegen.

– Der Plan zur Einrichtung einer 30 km tiefen Sicherheitszone entlangder türkisch-syrischen Grenze, besetzt von Vertriebenen und verwaltet von mit der Türkei verbündeten Kräften, basiert ebenfalls auf einer Strategie, die schon von Israel angewandt wurde. 1978-2000 legte Israel einen 20 km tiefen Grenzstreifen an der Grenze zum Libanon fest. Dieser wurde von Israel ausgestattet. Die libanesische Armee führte dort einen schmutzigen Krieg (mit Folterzentren und aussergerichtlichen Hinrichtungen) gegen den libanesischen und palästinensischen Widerstand.

– Die Kontrolle der Bevölkerung durch die Kontrolle des Wassers: ZurZeit der Osloer Abkommen erklärte Israel, dass 80% des Wassers von ihnen und 20% von den Palästinensern benutzt würden. In Zone A (unter Palästinensischer Autonomiebehörde) und B (unter gemischtem Regime) werden palästinensische Städte grundsätzlich von der israelischen Wassergesellschaft beliefert. Im Sommer ist das Wasser im Fluss jedoch unzureichend und die palästinensischen Behörden müssen es rationieren. In Zone C lebende PalästinenserInnen (67% des Westjordanland), wo Israel absolute militärische und zivile Kontrolle ausübt, müssen die Menschen mit 20 Liter Wasser pro Tag und Person leben. Darin ist das Wasser für die Landwirtschaft inbegriffen.

Seit Beginn der türkischen Offensive war es ein strategisches Ziel der Türkei, die Wasserversorgung für die Bevölkerung Rojavas zu kontrollieren. Am 10. Oktober 2019 wurde der Bouzra-Damm, der die Stadt Dêrik mit Wasser versorgt, von der türkischen Luftwaffe ins Visier genommen, während die Wasserversorgung für die Stadt Hassaké wegen Schäden an der Alok-Wasseraufbereitungsanlage unterbrochen wurde. Letztere versorgt 400.000 Menschen in der Region mit Wasser.

 

VI. Schlussfolgerung

Die Solidaritätsbewegung mit Rojava darf die Möglichkeit einer neuen Grossoffensive gegen Rojava – wie jene gegen Efrîn – nicht aus den Augen verlieren. Wir wissen nicht, wie lange die aktuelle Phase, die Ende 2019 begann, anhalten wird. Was wir wissen, ist dass der Krieg niedriger Intensität, der aktuell durch die Türkei gegen alle befreiten Gebiete Kurdistans führt (Rojava, Qandîl usw.) eine starke, anhaltende und vielfältige Aggression darstellt. Ihr zu widerstehen erfordert viel Aufwand, Mittel, Intelligenz und Entschlossenheit. Die internationale Solidarität kann und muss eine entscheidende Unterstützung für diesen Widerstand darstellen, vorausgesetzt, dass sie stark, anhaltend und vielfältig ist.

 

August 2020

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